Samstag, 10. März 2012

Heute möchte ich euch mit einer kleinen Leseprobe neugierig machen


Leseprobe aus "Anonymus@", Teil vier der Werne-Krimi-Reihe von Renate Behr:

Jens hatte Werne schon fast erreicht, als sein Handy klingelte. Im Display stand der Name seiner Kollegin.
»Was gibt’s, Schneiderlein, ich habe Feierabend.«
»Ich weiß, Jens. Bist du schon zu Hause? Noch nicht, prima.
Kannst du bitte am Krankenhaus vorbeifahren. Wir hatten eben so einen merkwürdigen Anruf und du bist ja schonfast da. Sonst müsste ich die Kollegen der Spätschicht rüberschicken, und wenn es nur ein falscher Alarm ist, wäre dasecht übel.«
»Was denn für einen Anruf?«
»Da hat sich ein Leichenbestatter gemeldet, dem man eine Leiche aus dem Wagen gestohlen haben soll.«
»Eine Leiche? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Da will uns doch jemand verarschen.«
»Genau das habe ich mir auch gedacht. Deswegen dachte ich ja auch, du fährst da kurz vorbei, überzeugst dich davon,dass es nur ein übler Witz ist und fährst dann weiter nach Hause.«

Jens seufzte.
»Also schön, dann mache ich das mal eben. Ich ruf dich
gleich noch mal an.«
Als Jens Wischkamp das Krankenhaus in Werne erreichte, erkannte er sofort, dass es sich offensichtlich nicht umeinen üblen Scherz gehandelt hatte. Er war gleich nach unten zum Wirtschaftshof durchgefahren, denn er wusste, dassdie Bestatter zur Abholung von Verstorbenen diese Zufahrt benutzten. Dort stand ein Leichenwagen, auf dessen Ladefläche sich ein geöffneter, aber leerer Sarg befand. Daneben stand ein weißhaariger, älterer Herr, der immerzu den Kopf schüttelte. Jens stellte sich vor.
»Was ist denn genau passiert? Erzählen Sie mal.«
»Ich war bestellt worden, um einen Verstorbenen abzuholen. Die Angehörigen hatten mich mit der Organisation derBestattung beauftragt. Wir haben den Sarg mit dem Leichnam in den Wagen gebracht, dann bin ich zurückgegangen, um die notwendigen Papiere zu unterschreiben. Das machen wir immer so. So etwas ist mir noch nie passiert. Wer stiehlt denn eine Leiche? Und was soll ich denn jetzt nur der Familie erzählen?«
Der Mann war fassungslos. Auch Jens konnte kaum glauben, was er da gerade gehört hatte. Es war helllichter Tag,da konnte man doch nicht einfach einen Toten huckepack nehmen und seiner Wege gehen. Er griff zum Telefon.
»Schneiderlein, ich bin‘s, Jens. Schick mir bitte ein Team von der Spurensicherung zum Krankenhaus nach Werne.Das war kein Witz, hier ist tatsächlich eine Leiche geklaut worden. Meinen Feierabend kann ich mir jetzt wohl mal erstabschminken. Ruf bitte meine Frau an und sag ihr, es kann später werden.«

Dann legte er auf und wandte sich wieder dem Bestatter zu.
»Den Wagen müssen wir auf Spuren untersuchen. Vielleicht führt uns das zum Täter. Die Kollegen sind in etwa einerStunde da, solange dürfen Sie nichts anfassen. Ich nehme jetzt Ihre Personalien auf, dann können Sie gern erst mal nach Hause gehen. Wir rufen Sie an, wenn Sie Ihren Leichenwagen wieder abholen können.«

Unruhig ging er auf und ab. Das hatte er so nicht geplant. Er hatte spontan gehandelt und nun musste er nachdenken.
Er fragte sich, wieso ein kleiner toter Mann so schwer war. Es hatte ihm sehr viel Mühe bereitet, ihn allein bis zu seinemFahrradanhänger zu tragen. Dass ihn dabei niemand gesehen hatte, kam ihm jetzt wie ein kleines Wunder vor. Er warleichtsinnig gewesen. Aber die Gelegenheit erschien ihm so günstig. Und jetzt musste er überlegen, wie es weitergehensollte. Er nahm das Buch zur Hand. Wieder war er von der Originalvorlage abgewichen. Eigentlich hätte er den Tod
selbst herbeiführen müssen. Er hatte immer wieder versucht sich vorzustellen, wie er das anfangen sollte. Er hatte Angstgehabt, Angst zu versagen. Und dann hatte er diesen Sarg gesehen, ganz zufällig. Eigentlich wollte er nur ein wenig amSee spazieren gehen und dazu die Abkürzung über den Wirtschaftshof des Krankenhauses nehmen. 
Dieser Sarg hatteihn einfach magisch angezogen. Er würde sein größtes Problem lösen können. Er hatte gar nicht weiter nachgedacht. Er wollte einfach nur diese Leiche haben. Das würde es leichter machen. Dann war er nach Hause gefahren. Der Tote lag noch immer gut abgedeckt in seinem Anhänger. Er musste die Nacht abwarten, bevor er ihn ins Haus holen konnte. Der kleine alte Mann war doch schon tot. Ihm konnte es egal sein, was jetzt mit ihm passierte. Wieder sah er auf das Buch. Der, über den da geschrieben worden war, der hatte keine Angst gehabt. Der musste sich nicht irgendwo einen Toten stehlen. Der hatte selbst dafür gesorgt, dass jemand sein Leben verlor. Er hatte sich vorgenommen, alles das zu tun, was der im Roman auch getan hatte. Aber er hatte es mit der Angst zu tun bekommen. Es hatte ihm ja auch keinen Spaß gemacht, die beiden Katzen zu töten. Er hatte sich schlecht gefühlt dabei. Beinahe hatte er sich übergeben müssen, als er sie zerschnitt. Er würde nie so stark sein wie der Typ im Roman. Versager, hallte es in seinem Kopf. Er presste beide Fäuste an die Schläfen. Doch er würde es allen beweisen. Dieser kleine tote alte Mann in seinem Auto, das war nur der Anfang. Sie würden schon sehen, alle würden sie sehen, dass er kein Versager war. Er würde es allen beweisen, dass er stark sein konnte. Und er würde dafür sorgen, dass zumindest dieses eine Buch berühmt wurde. Dieser Ruhm würde dann seinem Idol zugutekommen und ihn dahin bringen, wohin er gehörte. Er, er allein, würde dafür sorgen, dass das auch wirklich so passierte. Diese Abweichung würde die Letzte sein, die er sich gestattete. Heute Nacht würde er sich seine allerletzte Schwäche zugestehen.

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